Wladimir Woytinsky

Armin Fuhrer

Ein vergessener Vater Europas

Kürzlich sah ich in der ZDF-Sendung „heute“ einen Bericht zum 70. Jahrestag des Schuman-Plans von 1950. Damals schlug der französische Außenminister Robert Schuman der Bundesrepublik Deutschland eine Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion vor. In dem Bericht wurde behauptet, der Schuman-Plan sei die Geburtsstunde des europäischen Gedankens. Mit Verlaub: das ist Unsinn. Der europäische Gedanke ist wesentlich älter, lange vor dem Ersten Weltkrieg finden sich bereits Denker, die diese Idee verfochten. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in vielen Ländern Europas eine breitangelegte Diskussion dazu, die bis in Regierungskreise reichte. Erinnert sei nur an die Paneuropa-Bewegung des jungen ungarischen Grafen Richard Nikolaus Coudenhove Kalergi und an das Heidelberger Programm der SPD aus dem Jahr 1925, in dem erstmals in einem deutschen Parteiprogramm die Vereinigten Staaten von Europa gefordert wurden.

Auch in anderen Parteien wie der linksliberalen DDP, dem Zentrum und selbst in der rechtsliberalen DVP Gustav Stresemanns hatte „Europa“ Anhänger. Und erst recht gab es eine ganze Reihe bekannter und erfolgreicher Schriftsteller wie Heinrich Mann, Stefan Zweig und Emil Ludwig, die für diesen Gedanken eintraten. Zu den strikten Gegnern gehörten die Rechtskonservativen, die Nationalsozialisten und die Kommunisten.

Zu den Politikern, die sich am intensivsten mit der Zukunft eines vereinten Europa beschäftigen, zählte Wladimir Woytinsky. Der Sozialdemokrat wurde 1885 in Sankt Petersburg als Sohn eines jüdischen Mathematikprofessors geboren und hatte sich schon im Alter von20 Jahren den Bolschewiki angeschlossen. Von 1908 bis 1912 wurde er vom Zarenreich nach Sibirien verbannt. Nach der Oktoberrevolution von 1917 geriet er aber in Gegensatz auch zu den Bolschewisten und musste über Georgien 1922 nach Deutschland emigrieren. Hier schloss er sich der SPD und dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) an. 1929 avancierte er zum Chefstatistiker des ADGB. Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers ging er, erneut aus einer Heimat vertrieben, in die USA, wo er 1960 starb.

Woytinsky entwickelte sich zu einem glühenden Verfechter des Europa-Gedankens, ohne jemals die Probleme zu übersehen, die mit der Umsetzung verbunden waren. In mehreren Büchern, die zum Teil mit ausführlichen statistischem Material versehen waren, und unzähligen Zeitungsartikeln legte er seine Gedanken dar. Er zeigte die Chancen und die Probleme eines vereinten Europas auf, aber eins war für ihn immer klar: die Zukunft Europas lag nach dem Ersten Weltkrieg ausschließlich in seiner Vereinigung. Wie auch immer die aussehen mochte.

Oft standen bei Woytinsky Fragen der europäischen Sozialpolitik im Mittelpunkt. Da er, wie andere Europa-Anhänger auch, als einen sehr wichtigen Schritt eine europäische Zollunion ansah, forderte auch im Zusammenhang damit auch eine Vereinheitlichung der sozialen Gesetzgebung. Das Problem der sozialen Pflichten der Unternehmen, so schrieb er 1926 in seinem Buch Die „Vereinigten Staaten von Europa“, werde sich zu einem internationalen Problem ausweiten. Im Mittelpunkt werde neben den Fragen einer Sozialversicherung und einer Arbeiterschutzgesetzgebung vor allem das Problem der Arbeitslosenunterstützung stehen. Denn, so befürchtete der Sozialdemokrat, die Einführung einer europäischen Zollunion werde zu einer zeitweiligen Verschärfung der Arbeitslosigkeit führen, weil sich, kurz zusammengefasst, die einzelnen Staaten stärker wirtschaftlich spezialisieren müssten. Das sei der Preis, den Europa für die Erhöhung des Standes seiner Wirtschaft – dazu würde es durch die Gründung einer Zollunion kommen – als Ganzes würde zahlen müssen.

Diese Last dürfe aber nicht auf die Schultern des Proletariats gelegt werden, sondern sei eine Angelegenheit der ganzen Union. Er begründete das nicht nur mit dem sozialen Aspekt, sondern auch mit einem ökonomischen. Denn das mit der Zollunion verbundene Ziel sei letztlich eine Vergrößerung des Absatzmarktes innerhalb dieser Union. Wenn aber die Masse der Bevölkerung nicht über genügend Kaufkraft verfüge, sei die Vergrößerung des Arbeitsmarktes nach innen zum Scheitern verurteilt.

Ein großes Problem sah Woytinsky in der Tatsache, dass das Lohnniveau in den europäischen Ländern sehr ungleich war. Dadurch, so glaubte der sozialdemokratische Volkswirtschaftler, entstehe zwar nicht zwingend die Gefahr einer Konzentration der Produktion in den Gebieten des sozialen Tiefststandes und der Hungerlöhne oder die Gefahr, dass die Industrie von den westeuropäischen Ländern mit ihren hohen Reallöhnen nach Süden und Ost, also in Gebiete mit niedrigeren Löhnen abwandern werde. Wohl aber sah Woytinsky die Gefahr, dass die Gebiete des sozialen Tiefstandes auf die Produktion der wirtschaftlich und sozial fortgeschrittenen Staaten Druck ausüben könnten. Auch habe das Argument, Fremdarbeiter könnten das Lohnniveau drücken, einiges für sich.

Wie wir wissen, brauchte es erst einen weiteren Weltkrieg, bis Europa zur Vernunft kam und anfing, sich zusammenzuschließen. Und wir sind auch nur zu bewusst, dass Woytinskys Vorhersage über die zu erwartenden Probleme eintrafen. Schließlich kämpft Europa noch immer damit.

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